Sonntag

Ein Cafe weit weg von Rotterdam

Irgendwie krass. Ich bin im fünften Semester, im dritten Jahr, offiziell dem Letzten. Es gab Höhen und Tiefen und jetzt gerade ein ganz neues Kapitel. Ich bin im Auslandssemester in Rotterdam. Offiziell Vollzeitstudentin für Philosophie. Wirtschaft steht momentan etwas hinten an, ich werde wahrscheinlich nur einen Kurs hier besuchen zum Finanzwesen, sonst heißt es Kant, Rousseau und Voltaire. Mein ganzer Rhythmus ist neu. Vorlesungen um 6 Uhr abends, jeden Tag die Möglichkeit auszuschlafen. Das ist komisch, aber ich gewöhne mich. Was aber ganz spannend ist: Ich habe so viel Spaß an Philosophie wie noch nie, doch die Diskussionen fehlen mir. Viele Texte müssen wir lesen und verstehen ohne sie je im Plenum besprochen zu haben und das fällt mir schwer. Es ist unheimlich anstrengend einen solchen Text gut zu lesen, ihn bis ins Detail zu verstehen und sich immer wieder selbst dazu zu motivieren, doch es gibt einem auch unheimlich viel. Für meine Kurs "Early Enligthenment" muss ich momentan "The Man Maschine" von Julien Offray de La Mettrie lesen und besonders seine Gedanken zu Imagination haben mir viel zu denken gegeben.

Trotzdem versuche ich neben all den Uni-Texten ab und zu zu einem Buch zu greifen, das ich von Zuhause mit genommen habe und das erste, das ich hier in Rotterdam beendet habe war "Die Ballade vom traurigen Cafe" von Carson McCullers. Damit bin ich an manchen Abenden ins Amerika von 1940 eingetaucht. Zu Gast war ich inMiss Amelias Café, welches einzigartig in der Gegend ist. Nirgends sonst haben die Leute die Möglichkeit beim besten von ihr gebrannten Whisky die Sorgen von Zuhause zu vergessen. Doch das war nicht immer so. Erst als der zwielichtige und bucklige Vetter Lymon in ihr Leben tritt sieht man sie zum ersten mal lieben. Ihre harte Schale taut wider alle Erwartungen ein wenig auf, denn das hat sie selbst in ihrer kurzen Ehe nicht. Doch als ihr alter Ehemann, denn sie so mühsam versucht hat loszuwerden in die Stadt zurückkehrt nehmen komische Dinge ihren Lauf. Auf einmal wird sie verraten, hintergangen und ist allein und schon bald droht alles was sie sich solange erkämpft hat zu verschwinden.

Besonders machen die Geschichte die Personen. Man weiß so viel und gleichzeitig so wenig von Ihnen. Scheint man sie gerade zu kennen so wendet sich das Blatt und ganz unerwartete Dinge geschehen. Das selbe gilt für die Stadt in der Miss Amelias Cafe steht. Trocken und staubig macht sie ihre Bewohner zu dem, was sie sind - hart, unberechenbar und ein wenig verbittert. McCullers gelingt es Einsamkeit und Isolation überraschend nah dazustellen und man kann sie beim Lesen förmlich spüren. Sie schreibt dabei sehr fokussiert, ohne unnötige Ausschweifungen, aber doch mit versteckten Details und Kniffen, die einen fesseln und auf jede neue Seite gespannt machen.
Der Autorin gelingt es ganz nebenbei das Verlangen nach echter Gemeinschaft und Verbundenheit, die sich alle Bewohner der Stadt heimlich ersehen, zu vermitteln. Sie ergründet die Liebe und wie verschieden sie ist, abhängig davon auf welcher ihrer Seiten man steht. Man selber fühlt sich nach dem Lesen schnell selbst etwas isoliert, jedoch auf eine ganz wunderbare Weise, denn ein McCullers Sätze und ihre wunderbare Sprache bleiben im Gedächtnis wie eine Umarmung.

So hat meine Zeit hier in Rotterdam zwischen Autoren der frühen Aufklärung und einer der wohl besten modernen amerikanischen Autorinnen begonnen. Es war ein sanfter Start, mit viel Zeit zum Nachdenken, neue Orte erkunden, Freundschaften schließen, aber auch melancholisch sein. Momentan genieße ich noch das gute Wetter und erkunde gerne mit dem Fahrrad die Gegend, doch ich bin auch schon bereit für die regnerischen Tage, denn ich habe viel guten Lesestoff im Gepäck. Bis dahin. Liebst, Meike

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